Heimat - Jugendzeit                                              

Man sagt oft, Heimat ist da, wo man lebt und sich wohlfühlt. Der Meinung bin ich zwar auch, aber für mich ist der Begriff auch verbunden mit der Erinnerung an die Kindheit und die Jugendzeit. Die Internetseite www.naumburg-almrich.de mit der interessanten Ortschronik, den alten und neuen Bildern, den gelungenen Artikeln, speziell von den Almricher Mitgliedern meines Jahrganges 1934/35 - teilweise sogar in Versform, Berichte von Zeitzeugen, wie auch neuere Beiträge, haben mich sehr berührt und zu diesen Zeilen veranlasst. Sehr gut finde ich, dass sich jemand die Arbeit und Mühe macht, das alles zu sammeln, aufzubereiten und auf diese Weise der Nachwelt zu erhalten. Nicht zuletzt auch in Hinblick auf die immer größer werdende Zahl der Internetnutzer.
Rückblickend kann ich sagen: Wir hatten einerseits eine schöne, interessante Kindheit und Jugend, die aber andererseits geprägt war vom Hunger und den Entbehrungen der Kriegs- und Nachkriegszeit. Jedenfalls haben wir in dieser Zeit auch viel für das Leben gelernt. Da waren gegen Kriegsende die Wellen der britischen und amerikanischen Bomber, die hoch über uns in Richtung Leipzig und Dresden ihre Kondensstreifen an den Himmel zeichneten, um dort in den Großstädten ihre tödliche Last abzuwerfen. Einer von denen musste wohl von der deutschen Flak abgeschossen, und in Flemminger Gemarkung in ein Feld gestürzt sein. Bevor die Absturzstelle von der Polizei gesichert wurde, waren wir als Erste vor Ort und hatten uns mit Bordmunition und Plexiglas versorgt. Das brannte und rußte so schön und roch so seltsam. Aus dieser Maschine war wohl auch ein Besatzungsmitglied mit dem Fallschirm abgesprungen und auf den Saalbergen gelandet. Der Mann wurde von unserem eifrigen Dorfpolizisten erschossen. Ich sehe den jungen Soldaten heute noch vor mir liegen, in seiner eleganten Uniform unter der pelzgefütterten Lederkombination und dem Loch in der Schläfe. Im „Adler“ war zu der Zeit ein Molkereiladen und weil ich dort immer Milch für meine kleinen Geschwister holen musste, konnte ich von der Terrasse amerikanische Jabos sehen, die mit ihren Bordkanonen Jagd auf pflügende Bauern in den Saaleauen machten.
Bald nach dem Krieg hatten wir eine Wohnung auf dem Lindenberg, mit einer herrlichen, unverbauten Aussicht über unser schönes Saaletal von den Saalhäusern bis nach Freyburg.
Not macht erfinderisch, und so haben wir z. B. damals unser Spielzeug weitgehend selbst gebastelt. Die Freizeit haben wir rund um das Jahr in Feld und Flur verbracht. Die Winter, die damals noch ihren Namen verdienten, sowie auch unsere Schulzeit wurden ja an anderer Stelle von meinen Schulkameraden schon mehrfach beschrieben. Unvergessen auch das abendliche Schlittschuhlaufen auf der zugefrorenen „Alten Saale“, während über Naumburg ein großer, rötlicher Vollmond hing. Außer in der Winterzeit wussten wir immer, wo was zu holen war. Egal, wie die Besitzer der Obstbäume zu der Zeit hießen, die ersten Kirschen und Äpfel, oft noch nicht ganz reif – sonst hätten sie vielleicht andere vor uns geerntet, gehörten uns. Gemüse wurde auf jedem Quadratmeter, der einigermaßen dafür geeignet war, angebaut. Im Teich in Gläsers Garten fing ich mit einer primitiven Angel und einem Regenwurm die erste Schleie. In der kleinen Saale konnte man unter den Wurzelstöcken der Kopfweiden mit Geschick und schön vorsichtig, Rotaugen, Barsche und Döbel fangen. Mit einer zum Speer umgebauten Vorlegegabel wurden Aale erbeutet, die sich im warmen Schlamm und flachem Wasser sonnten und nur an ihrer geschwungenen Rückenflosse zu erkennen waren. Selbst die Eier aus den Krähennestern auf den Pappeln an der „Alten Saale“ wurden zu Rührei verarbeitet. All das, und auch im Herbst die Pilze und Blaubeeren aus dem Laasen, dienten der Bereicherung des damals eher kargen Speisezettels.
Ach ja, da war noch die Beute des Neuntöters, der Käfer und Mäuse auf die Dornen der Schlehen am Knabenberg gespießt hatte. Da waren die jungen Turmfalken in der riesigen Rotdornhecke an der Saale gegenüber dem Fischhaus und gleich nebenan in der hohlen Weide die halbflüggen Schleiereulen. Der Bussardhorst mit Eiern in einer der uralten Eichen auf den Pfortenwiesen am Dorfrand. In den kleinen Sümpfen im Pfortenholz konnte man im Frühjahr die bunten Männchen der Teichmolche auf Brautschau und mit etwas Glück sogar einen Feuersalamander antreffen. Im Sommer sonnten sich Smaragd- und Zauneidechsen in den aus Kalksteinen gebauten Trockenmauern der Weinberge und auf den Saalbergen, wo es abgesehen vom Zirpen der Grillen absolut still war, wuchsen stängelloser Enzian und die Silberdistel (Eberwurz). In manchen Jahren traten massenhaft Maikäfer auf, die konnte man am besten frühmorgens, wenn sie von der Nachtkühle noch steif waren, leicht von den Kirsch- und Eichenbäumen schütteln. Diese, und noch mehr Erfahrungen und Beobachtungen, haben mir bis heute die Begeisterung für die Natur und die Liebe zum Angelsport erhalten. Wenn ich mir heute manche von diesen Plätzen ansehe, ist doch nach rund fünfundsechzig Jahren deutlich zu erkennen, dass, wenn der Mensch nicht mehr eingreift, Äcker und Gärten die nicht mehr bewirtschaftet, Wiesen die nicht mehr gemäht und Obstbäume die nicht mehr geschnitten werden, von der Natur wieder zurückerobert werden. Außer den genannten Aktivitäten verbrachten wir unsere Zeit auch mit dem Lesen von Büchern. Nicht viele hatten ein Radio, ganz zu schweigen von Fernsehen, Computer und Handy, was heutzutage fast jeder hat. Diese Entwicklung ist für mich der Hauptgrund, dass der Großteil unserer heutigen Jugend eine so eine miserable Bildung und Ausbildung hat. Mit dem Ende der Schulzeit und während der Berufsausbildung, traten andere Interessen in den Vordergrund. Da waren die Tanzstunden bei Mathilde Döring auf dem Lindenring. Wo eines Abends, während wir drinnen unsere Runden drehten, die Kumpels vom Parallelkurs, aus Neugier oder Langeweile an der Hausfassade hochkletterten und mitsamt dem Rosenspalier im Vorgarten landeten. Eine Mordsgaudi ! Mich konnte man mit dem Blumenstrauß hinter dem Rücken, war ja unmännlich!, an der Stadtmauer zum Holzmarkt schleichen sehen, um den Eltern der Tanzstundendame einen Anstandsbesuch zu machen und die Auserwählte zum Ball abzuholen. Die Zeit im Volkschor Naumburg-West, damals unter der Leitung von Ernst Brembach, bleibt auch unvergessen. Das Billardspiel in der „Linde“, Skatrunden dort und im „Bär“, das Biertrinken aus Drei-Liter-Stiefeln wurde fleißig geübt – „Bei dem’s gluckert, der bezahlt“ oder „Der Vorletzte bezahlt“ (besonders fies !) – mehr als einmal hat Max Kramer, der damalige Lindenwirt, zu vorgerückter Stunde zu uns gesagt :“Ich bin müde, gehe in mein Bett. Schreibt auf, was ihr verzehrt!“ Missbrauch wurde mit der Freiheit nicht getrieben! Überhaupt war damals die Ledereckbank mit dem großen, weißgescheuerten Tisch davor, unsere zweite Heimat. Die „Linde“ und der Saal im ersten Stock, wo in der Herbst- und Winterzeit gelegentlich Vereinsveranstaltungen und Bälle stattfanden, war ja sozusagen der gesellschaftliche Mittelpunkt des Dorfes. Ich selbst kann nicht beurteilen, ob den heute jemand vermisst, vielleicht doch, ältere Leute?
Es folgten Kneipenabende im „Lämmerschwänzchen“ und in den „Zillestuben“, Tanzabende im „Ratskeller“ und im „Bürgergarten“, sowie erste, zunächst zaghafte Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht. Aus heutiger Sicht war es für mich eine schöne, angenehme Zeit – die weniger angenehmen Erinnerungen werden ja bekanntlich verdrängt – die leider viel zu schnell vorüber gegangen ist. Die gelegentlich stattgefundenen Klassentreffen habe ich immer sehr genossen. So wie es aussieht, sind sie, was ich sehr bedauere, Geschichte, denn nachdem unsere liebe Helga Reumann uns leider für immer verlassen hat, wird sich wohl niemand mehr finden, der das Ganze organisiert. Von dieser Stelle grüße ich herzlich alle ehemaligen Schulkameradinnen, Schulkameraden, Freunde und Kollegen. Mögen uns allen noch ein paar Jahre bei einigermaßen guter Gesundheit und geistiger Frische vergönnt sein.

                                                                    Gert Scharfe      Ludwigshafen am Rhein, den 03.02.2009