Heimat – Jugendzeit, 2.Teil
Erlebt und geschrieben von Gert Scharfe.
In der Hauptstraße.
Es wird am besten sein, ich fange meine Geschichte in der chronologisch
richtigen Reihen- folge, das heißt Anfang der 40er Jahre, an. Mit meinen Eltern
und der Schwester wohnte ich damals in der unteren Hauptstraße bei dem Bauern
H.M., direkt neben der Bäckerei Ehrhardt. Dieser Bauer wird mir mein ganzes
Leben lang in unguter Erinnerung bleiben, denn eines Tages, er hatte wohl frisch
geschlachtet, stellte er sich mit einem dick mit Gehacktem belegten Brötchen in
der Hand, im Hausflur vor mich hin, sah mich herausfordernd an und biss
schmatzend hinein. Ich war damals immer hungrig und habe selten einen Menschen
so gehasst. Auf der anderen Straßenseite, gegenüber dem Friseur Weiße, gab es
ein damals
Die Siedlung an der Schweinsbrücke.
Nachdem mein Vater zu Anfang des Krieges gefallen war, hat meine Mutter
später wieder geheiratet. Mein Stiefvater,
„Vatti“ – ältere Almricher werden sich sicher an ihn
erinnern, war ein guter Mensch. Er hat keinen Unterschied zwischen uns, seinen
Stiefkindern und seinen eigenen Kindern gemacht und hat immer vorbildlich für
die Familie gesorgt. So 1943 herum sind wir, auch weil die Familie immer größer
wurde, in die Siedlung vor der Schweinsbrücke gezogen. Unten rechts, das letzte
Haus auf der linken Seite. Der Hauswirt, es war ein pensionierter Lehrer, muss
wohl über die Einquartierung der kinderreichen Familie nicht sonderlich
begeistert gewesen sein, denn er hat uns ständig schikaniert. Deshalb habe ich
mich an ihm gerächt, indem ich ihm seinen ganzen Stolz, die Äpfel und Birnen in
seinem Garten, vom Balkon aus mit dem Katapult und kleinen Stahlkugeln
angeschossen habe, so dass sie nach und nach verfaulten. Die Nachbarn neben uns,
Richtung „Krumme Hufe“, hatten Truthühner. Die legten im Garten regelmäßig ihre
Eier, der Zaun war kein großes Hindernis und so standen sie in der schweren Zeit
öfter auf dem Speiseplan. In den Wirren zum Ende des Dritten Reiches gab es so
manches Schnäppchen zu ergattern. Auf den Gleisen vor dem Hauptbahnhof standen
ganze Waggons voll mit Medikamenten und Verbandsmaterial, also weniger
interessant. Eher schon welche mit Zucker in Säcken, die wurden mit dem Fahrrad
nach Hause geschleppt. Damals war sich jeder selbst der Nächste, und so wurden
auch die
mit Kohlen beladenen Züge ständig geplündert. Als die Nazis die „Napola“,
( „Nationalpolitische Erziehungsanstalt“ ) in der Kösener Straße aufgegeben
hatten, wurden dort bergeweise Schuhe und Kleidungsstücke raus geschleppt. In
jener Zeit waren das alles begehrte Tauschobjekte gegen Lebensmittel. Beim
Einmarsch der Amerikaner waren weiße Fahnen gefragt, gleich danach und auch
später waren dann rote groß in Mode, das war sehr praktisch, denn man trennte
den weißen Kreis mit dem Hakenkreuz nur heraus, was sehr gut oft noch zu sehen
war, und schwups war man auf dem neuesten Stand. Zu dieser Zeit waren mein
Stiefvater und ich öfter mit dem Handwagen auf den Dörfern, z.B. in Mertendorf
oder Hassenhausen, unterwegs um wegen Korn, Brot und/oder Kartoffeln zu betteln,
Hamstern nannte man das damals. Teppiche und Bestecke, wie die Städter, hatten
wir ja nicht zum Tauschen. Mehr als einmal haben uns die Bauern mit dem Hund vom
Hof gejagt. Das hat meine „Zuneigung“ für diesen Berufsstand noch mehr
gesteigert. Das tiefe Misstrauen der Bauern gegenüber allem Fremden ist sicher
genetisch bestimmt, und kommt wohl daher, weil die Soldaten in den vielen
mittelalterlichen Kriegen von ihren Dienstherren nur selten und unregelmäßig
Sold bekamen, sich also notgedrungen bei der wehrlosen Landbevölkerung
bedienten. Logisch, dass die Leute mit Dreschflegeln und Sensen gegen gut
bewaffnete Söldner wenig ausrichten konnten.
Auf dem Lindenberg.
Die Zeiten wurden nicht besser, im Gegenteil, aber gleich nach dem Krieg
sind wir auf den Lindenberg gezogen. Um nicht zu frieren musste Holz her. Ob das
legal oder illegal war, weiß ich heute nicht mehr, aber an die schwere Arbeit
denke ich immer noch mit Grausen. Im Winter, bei Schnee und Eis, mit dem
Schlitten ins Pfortenholz gezogen. Am Hang mit der Schrotsäge Bäume gefällt, die
froststarren Finger musste man einzeln vom Griff der Säge lösen, die Stämme in
meterlange Stücke zersägt, mit Eisenkeilen und Vorschlaghammer gespalten und auf
dem Schlitten nach Hause gezerrt. Zuhause, im Hof auf dem Sägebock, wurden die
Scheite in ofengerechte Stücke gesägt und noch klein gehackt. Es gab aber auch
angenehmere Arbeit. Ein Bauer auf dem Lindenberg war wohl zu faul, seinen Zaun
zu reparieren. Seine Hühner scharrten sich im Sandboden hinter dem Hof, unter
den Büschen, Nester und legten ihre Eier hinein. Um sie aufzusammeln, musste man
sich nur bücken.
Ein paar Geschichten aus meiner Wald- und Wiesenzeit sind mir auch noch
eingefallen. Im Pfortenholz hatte ich einen Eichhörnchenkobel entdeckt, der
bewohnt war. Also bin ich auf den Baum geklettert und knapp unter dem Nest ist
mir eines der Tiere direkt auf den Oberschenkel gesprungen. Geschnappt und in
der Jacke verstaut war eins. Jetzt aber wohin damit? Es fiel mir nur Onkel Erich
„Rosenmüller“ ein. In einer Voliere hinten in der Gärtnerei bekam es ein neues
Zuhause. Als ich mich ein paar Tage später danach erkundigte, hieß es, es sei
verschwunden (worden?). Auf dem Anger stand ein altes Pumpenhäuschen ohne
Fenster und Türen. Als ich es inspizierte, duckte sich ängstlich ein Steinkauz
in eine Ecke und ließ sich sogar in die Hand nehmen! Nicht weit davon, so
zwischen kleiner Saale und Baggerteich, standen alte Eichen. An einem der Stämme
konnte ich Hirschkäfer beobachten, die sich mit ihren großen Geweihen
bekämpften. Überhaupt Baggerteich, dort waren wir in der warmen Jahreszeit oft
anzutreffen, meistens um zu baden. Gleich nach dem Krieg lagerten dort öfter
auch Russen, die ihre Panjepferde grasen ließen. Manchmal durften wir Kinder auf
denen reiten, natürlich ohne Sattel und Zaumzeug, nur an der Mähne konnte man
sich festhalten. Eines Tages traf ich dort einen Russen, der mit Handgranaten
fischte. Jedes mal, wenn im Wasser eine Granate explodiert war, trieben etliche
Fische betäubt an der Oberfläche. Dann sprang der Russe, nur mit der langen
Unterhose bekleidet, ins Wasser, um die Fische einzusammeln. Einen schönen
Großen, heute weiß ich, es war ein Brachsen, schnappte ich mir und rannte damit
davon. Der Kerl schrie laut „Frrriiitz“ – „Frrriiitz“, sauste hinter mir her,
bis er mich eingeholt hatte, verpasste mir ein paar Ohrfeigen und nahm mir den
Fisch ab. Schade um die schöne Mahlzeit! Eines Tages haben Werner R. aus der
„Hohle“, und ich beobachtet, wie Menden Kurt in der Saale eine Fischreuse
gestellt hat. Als er verschwunden war, rein ins Wasser und das Ding rausgeholt.
Zuerst haben wir sie am Durchstich zwischen dem Teich an der Klopstockquelle und
der kleinen Saale aufgestellt, aber außer ersoffenen Ratten war nichts drin.
Also, wieder in die Saale damit. Auch dort hatten wir wenig Glück, und an einem
schon sehr kalten Oktobertag, als wir die Reuse wieder mal kontrollierten und
vor Kälte schnatternd wieder ans Ufer stiegen, stand Menden Kurt vor uns und
fragte was wir da machten. „Baden“, sagten wir und machten uns aus dem Staub. Er
hat uns sicher angezeigt, denn kurze Zeit später musste ich mit meiner Mutter
bei der Polizei in Naumburg antanzen. Der Beamte fragte mich, wo wir die Reuse
her hätten und ich sagte, „am Saaleufer gefunden“. Nach einer Ermahnung durften
wir gehen und die Sache blieb ohne Folgen.
Bei den Großeltern.
Die Sonntage verbrachte ich oft bei den Großeltern, die ein Haus in der
damaligen Flemminger - , heute Sachsenholzstraße, hatten. Wir sagten zu der
Straße aber meistens „Hohle“.
Dort war es an den Sonntagsvormittagen immer schön ruhig und gemütlich, außerdem
gab es gewöhnlich was Gutes zu essen. Der Opa hörte dann oft und gern
Operettenmusik, daher wohl auch meine Vorliebe für klassische Musik. Die
Großmutter war Landhebamme und wurde nachts öfter aus dem Bett geholt, um auch
in z.B. Flemmingen oder Rossbach Kindern auf die Welt zu helfen. Als ich sie
einmal fragte, wie viele es denn gewesen sein könnten? Sagte sie: „Na, gezählt
habe ich nicht, aber so um die Zweitausend müssten es gewesen sein“. Der
Großvater hat viele Jahre in einer Landmaschinenfabrik in Halle als Buch- halter
gearbeitet. Morgens um halb sechs hat er das Haus verlassen und abends um halb
sieben war er wieder zuhause, sonnabends „schon“ um halb zwei. Den Begriff
„Urlaub“, im heutigen Sinne, kannte man damals nicht. Die paar Tage, die es gab,
wurden für Arbeiten in Haus und Garten verwendet. Der Opa hat immer davon
geschwärmt, einmal auf die Insel Helgoland zu kommen. Er hat es nie geschafft!
Beide Söhne der Großeltern sind im zweiten Weltkrieg geblieben, das, und die
politische Lage nach dem Krieg, haben ihn sehr verbittert.
Die Großeltern hielten
Kaninchen, wie damals viele Leute, und auch eine Ziege,
welche die „Beamtenkuh“ genannt wurde. Die gab regelmäßig Milch, aus der auch
Butter gemacht. wurde. Manchmal gab es zum Essen eine dunkle Einbrennsoße mit
Zwiebeln darin und Salzkartoffeln. Dieses Gericht hieß „Beamtenstippe“, das, und
der Name der Ziege lassen den Schluss zu, dass Beamte damals, im Gegensatz zu
heute, schlecht bezahlt wurden. Der Opa hatte über Jahre hinweg einen Hund, der
immer wenn ich kam, mich giftig anknurrte und mir die Zähne zeigte. Der muss
wohl wasserscheu und nachtragend gewesen sein, denn öfter, wenn mir langweilig
war, habe ich ihn mit Wasser aus dem Schlauch im Hof umher- gescheucht. Das arme
Tier hieß übrigens „Ralf“, es war schwarz und eine Mischung aus Schäferhund und
Spitz. Am Hang hinter dem Haus standen zu der Zeit eine Menge Kirsch- bäume. Die
hatte der Opa über Jahre hinweg gepachtet. Die Kirschen hat er geerntet und
selbst verbraucht oder verkauft. Da es verschiedene Sorten waren, wurden sie
natürlich zu unterschiedlichen Zeiten reif. Wir Kinder wussten damals sehr
genau, wann. Da es alleine nicht so viel Spaß machte, habe ich die
Jablonski-Kinder eingeladen, die im Dorf keinen besonders guten Ruf hatten,
wenig später aber nach Polen ausgewandert sind. Prompt kam der damalige
Dorfsheriff, ich glaube er hieß Braunschmidt, vorbei. Er kannte uns natürlich
und fragte ob wir die Erlaubnis hätten. „Ja, ja“, sagte ich und dachte, damit
wäre die Sache erledigt. Der Opa hat das Ganze sehr schnell erfahren und mir die
Hölle heiß gemacht. „Die Kirschen sind noch gar nicht richtig reif“, (das war
mir egal, es war das erste frische Obst im Jahr) und „ausgerechnet mit denen!“.
Damit meinte er die Schmuddelkinder, aber das sind ja oft die interessantesten
Spielkameraden. Damals hieß es immer: „Kein unreifes Obst essen!“ Und schon gar
nicht Wasser dazu trinken. Dann hieß es: „Vor Johanni, das ist glaube ich Anfang
Juni, nicht baden gehen!“. Das, und noch jede Menge mehr, gut gemeinter
Ratschläge wurden einfach ignoriert und in den Wind geschlagen. Wir haben alles
überlebt, und heute sind wir die „Alten“, mit Erfahrung und Lebensweisheit, auf
die keiner hören will. Aber – so ist das Leben! Junge Menschen sollen und müssen
ihre Erfahrungen selbst machen.
G.S.
03.03.2009