Heimat – Jugendzeit, 2.Teil
                                                  Erlebt und geschrieben von Gert Scharfe.


                                                    In der Hauptstraße.

Es wird am besten sein, ich fange meine Geschichte in der chronologisch richtigen Reihen- folge, das heißt Anfang der 40er Jahre, an. Mit meinen Eltern und der Schwester wohnte ich damals in der unteren Hauptstraße bei dem Bauern H.M., direkt neben der Bäckerei Ehrhardt. Dieser Bauer wird mir mein ganzes Leben lang in unguter Erinnerung bleiben, denn eines Tages, er hatte wohl frisch geschlachtet, stellte er sich mit einem dick mit Gehacktem belegten Brötchen in der Hand, im Hausflur vor mich hin, sah mich herausfordernd an und biss schmatzend hinein. Ich war damals immer hungrig und habe selten einen Menschen so gehasst. Auf der anderen Straßenseite, gegenüber dem Friseur Weiße, gab es ein damals „Kolonialwarenladen“ genanntes Geschäft. Dort gab es Zucker, Mehl, Salz, Hülsenfrüchte usw. in großen Schubladen. Das alles und noch mehr, wurde in Zeitungspapier eingewickelt oder, je nachdem in Papiertüten abgefüllt, gewogen und verkauft. Außerdem gab es Heringe und saure Gurken aus Fässern, Öl, Schmierseife, Schuhkreme, Senf und vieles andere. Alles zusammen ergab ein Gemisch aus Gerüchen, das unbeschreiblich war. Hier gab es auch, und das war für uns Kinder besonders wichtig, für ein paar Pfennige verschiedene Süßigkeiten, u.a. weiß-rosa Pfefferminzbruch und Himbeerbonbons aus runden Gläsern mit Deckel, die in einem Regal standen. Eines Tages hatte ein Freund von mir, ich weiß heute nicht mehr welcher, eine Zigarette besorgt, fehlte also nur noch Feuer. Ich also in den zweiten Kolonialwarenladen auf dem Lindenberg gegangen und eine Schachtel Streichhölzer verlangt. Auf die Frage für wen ich die holen soll, sagte ich: „Für meine Großmutter“. Die Zigarette wurde auf der Pastorwiese geraucht mit dem Erfolg, dass uns hundeelend war. Die Sache hatte ich schon vergessen, als ich neben meiner Mutter am Fenster hing und die Oma vorbei kam. Sie fragte die Mutter, ob die mich wegen Streichhölzern geschickt hätte. So schnell konnte den Rückzug vom Fensterbrett gar nicht schaffen, da hatte es bei mir schon eingeschlagen. Die Wohnung, in der wir damals wohnten, bestand nur aus zwei Räumen, einer Küche und einem etwas größerem Schlafzimmer. In diesem stand ein großer schwarzer Etagenofen. Jedenfalls kam mir das gusseiserne, zimmerhohe Ungetüm riesig vor. Ich hatte vermutet, dass meine Mutter da oben vor uns Kindern, selbstgebackene Plätzchen versteckt hätte. Also nichts wie raufgeklettert, und prompt stürzte das Monstrum um! Ich muss wohl einen Schutzengel gehabt haben, denn noch gerade rechtzeitig konnte ich seitlich abspringen. Das war ein schreckliches Getöse und, die Betten standen ja direkt daneben, das ganze Zimmer war voll mit Ruß. Etwa um die Zeit war es auch, dass ich hinten im Hof, neben dem Plumpsklo in die Jauchegrube fiel, die nur notdürftig mit Bohlen abgedeckt war. Die muss wohl nicht besonders tief gewesen sein, denn schwimmen konnte ich zu der Zeit noch nicht, aber es gibt im Leben sicher angenehmere Momente.


                               Die Siedlung an der Schweinsbrücke.

Nachdem mein Vater zu Anfang des Krieges gefallen war, hat meine Mutter später wieder geheiratet. Mein Stiefvater,  Vatti“ – ältere Almricher werden sich sicher an ihn erinnern, war ein guter Mensch. Er hat keinen Unterschied zwischen uns, seinen Stiefkindern und seinen eigenen Kindern gemacht und hat immer vorbildlich für die Familie gesorgt. So 1943 herum sind wir, auch weil die Familie immer größer wurde, in die Siedlung vor der Schweinsbrücke gezogen. Unten rechts, das letzte Haus auf der linken Seite. Der Hauswirt, es war ein pensionierter Lehrer, muss wohl über die Einquartierung der kinderreichen Familie nicht sonderlich begeistert gewesen sein, denn er hat uns ständig schikaniert. Deshalb habe ich mich an ihm gerächt, indem ich ihm seinen ganzen Stolz, die Äpfel und Birnen in seinem Garten, vom Balkon aus mit dem Katapult und kleinen Stahlkugeln angeschossen habe, so dass sie nach und nach verfaulten. Die Nachbarn neben uns, Richtung „Krumme Hufe“, hatten Truthühner. Die legten im Garten regelmäßig ihre Eier, der Zaun war kein großes Hindernis und so standen sie in der schweren Zeit öfter auf dem Speiseplan. In den Wirren zum Ende des Dritten Reiches gab es so manches Schnäppchen zu ergattern. Auf den Gleisen vor dem Hauptbahnhof standen ganze Waggons voll mit Medikamenten und Verbandsmaterial, also weniger interessant. Eher schon welche mit Zucker in Säcken, die wurden mit dem Fahrrad nach Hause geschleppt. Damals war sich jeder selbst der Nächste, und so wurden auch die  mit Kohlen beladenen Züge ständig geplündert. Als die Nazis die „Napola“, ( „Nationalpolitische Erziehungsanstalt“ ) in der Kösener Straße aufgegeben hatten, wurden dort bergeweise Schuhe und Kleidungsstücke raus geschleppt. In jener Zeit waren das alles begehrte Tauschobjekte gegen Lebensmittel. Beim Einmarsch der Amerikaner waren weiße Fahnen gefragt, gleich danach und auch später waren dann rote groß in Mode, das war sehr praktisch, denn man trennte den weißen Kreis mit dem Hakenkreuz nur heraus, was sehr gut oft noch zu sehen war, und schwups war man auf dem neuesten Stand. Zu dieser Zeit waren mein Stiefvater und ich öfter mit dem Handwagen auf den Dörfern, z.B. in Mertendorf oder Hassenhausen, unterwegs um wegen Korn, Brot und/oder Kartoffeln zu betteln, Hamstern nannte man das damals. Teppiche und Bestecke, wie die Städter, hatten wir ja nicht zum Tauschen. Mehr als einmal haben uns die Bauern mit dem Hund vom Hof gejagt. Das hat meine „Zuneigung“ für diesen Berufsstand noch mehr gesteigert. Das tiefe Misstrauen der Bauern gegenüber allem Fremden ist sicher genetisch bestimmt, und kommt wohl daher, weil die Soldaten in den vielen mittelalterlichen Kriegen von ihren Dienstherren nur selten und unregelmäßig Sold bekamen, sich also notgedrungen bei der wehrlosen Landbevölkerung bedienten. Logisch, dass die Leute mit Dreschflegeln und Sensen gegen gut bewaffnete Söldner wenig ausrichten konnten.


                                                        Auf dem Lindenberg.


Die Zeiten wurden nicht besser, im Gegenteil, aber gleich nach dem Krieg sind wir auf den Lindenberg gezogen. Um nicht zu frieren musste Holz her. Ob das legal oder illegal war, weiß ich heute nicht mehr, aber an die schwere Arbeit denke ich immer noch mit Grausen. Im Winter, bei Schnee und Eis, mit dem Schlitten ins Pfortenholz gezogen. Am Hang mit der Schrotsäge Bäume gefällt, die froststarren Finger musste man einzeln vom Griff der Säge lösen, die Stämme in meterlange Stücke zersägt, mit Eisenkeilen und Vorschlaghammer gespalten und auf dem Schlitten nach Hause gezerrt. Zuhause, im Hof auf dem Sägebock, wurden die Scheite in ofengerechte Stücke gesägt und noch klein gehackt. Es gab aber auch angenehmere Arbeit. Ein Bauer auf dem Lindenberg war wohl zu faul, seinen Zaun zu reparieren. Seine Hühner scharrten sich im Sandboden hinter dem Hof, unter den Büschen, Nester und legten ihre Eier hinein. Um sie aufzusammeln, musste man sich nur bücken.
Ein paar Geschichten aus meiner Wald- und Wiesenzeit sind mir auch noch eingefallen. Im Pfortenholz hatte ich einen Eichhörnchenkobel entdeckt, der bewohnt war. Also bin ich auf den Baum geklettert und knapp unter dem Nest ist mir eines der Tiere direkt auf den Oberschenkel gesprungen. Geschnappt und in der Jacke verstaut war eins. Jetzt aber wohin damit? Es fiel mir nur Onkel Erich „Rosenmüller“ ein. In einer Voliere hinten in der Gärtnerei bekam es ein neues Zuhause. Als ich mich ein paar Tage später danach erkundigte, hieß es, es sei verschwunden (worden?). Auf dem Anger stand ein altes Pumpenhäuschen ohne Fenster und Türen. Als ich es inspizierte, duckte sich ängstlich ein Steinkauz in eine Ecke und ließ sich sogar in die Hand nehmen! Nicht weit davon, so zwischen kleiner Saale und Baggerteich, standen alte Eichen. An einem der Stämme konnte ich Hirschkäfer beobachten, die sich mit ihren großen Geweihen bekämpften. Überhaupt Baggerteich, dort waren wir in der warmen Jahreszeit oft anzutreffen, meistens um zu baden. Gleich nach dem Krieg lagerten dort öfter auch Russen, die ihre Panjepferde grasen ließen. Manchmal durften wir Kinder auf denen reiten, natürlich ohne Sattel und Zaumzeug, nur an der Mähne konnte man sich festhalten. Eines Tages traf ich dort einen Russen, der mit Handgranaten fischte. Jedes mal, wenn im Wasser eine Granate explodiert war, trieben etliche Fische betäubt an der Oberfläche. Dann sprang der Russe, nur mit der langen Unterhose bekleidet, ins Wasser, um die Fische einzusammeln. Einen schönen Großen, heute weiß ich, es war ein Brachsen, schnappte ich mir und rannte damit davon. Der Kerl schrie laut „Frrriiitz“ – „Frrriiitz“, sauste hinter mir her, bis er mich eingeholt hatte, verpasste mir ein paar Ohrfeigen und nahm mir den Fisch ab. Schade um die schöne Mahlzeit! Eines Tages haben Werner R. aus der „Hohle“, und ich beobachtet, wie Menden Kurt in der Saale eine Fischreuse gestellt hat. Als er verschwunden war, rein ins Wasser und das Ding rausgeholt. Zuerst haben wir sie am Durchstich zwischen dem Teich an der Klopstockquelle und der kleinen Saale aufgestellt, aber außer ersoffenen Ratten war nichts drin. Also, wieder in die Saale damit. Auch dort hatten wir wenig Glück, und an einem schon sehr kalten Oktobertag, als wir die Reuse wieder mal kontrollierten und vor Kälte schnatternd wieder ans Ufer stiegen, stand Menden Kurt vor uns und fragte was wir da machten. „Baden“, sagten wir und machten uns aus dem Staub. Er hat uns sicher angezeigt, denn kurze Zeit später musste ich mit meiner Mutter bei der Polizei in Naumburg antanzen. Der Beamte fragte mich, wo wir die Reuse her hätten und ich sagte, „am Saaleufer gefunden“. Nach einer Ermahnung durften wir gehen und die Sache blieb ohne Folgen.


                                                    Bei den Großeltern.


Die Sonntage verbrachte ich oft bei den Großeltern, die ein Haus in der damaligen Flemminger - , heute Sachsenholzstraße, hatten. Wir sagten zu der Straße aber meistens „Hohle“.
Dort war es an den Sonntagsvormittagen immer schön ruhig und gemütlich, außerdem gab es gewöhnlich was Gutes zu essen. Der Opa hörte dann oft und gern Operettenmusik, daher wohl auch meine Vorliebe für klassische Musik. Die Großmutter war Landhebamme und wurde nachts öfter aus dem Bett geholt, um auch in z.B. Flemmingen oder Rossbach Kindern auf die Welt zu helfen. Als ich sie einmal fragte, wie viele es denn gewesen sein könnten? Sagte sie: „Na, gezählt habe ich nicht, aber so um die Zweitausend müssten es gewesen sein“. Der Großvater hat viele Jahre in einer Landmaschinenfabrik in Halle als Buch- halter gearbeitet. Morgens um halb sechs hat er das Haus verlassen und abends um halb sieben war er wieder zuhause, sonnabends „schon“ um halb zwei. Den Begriff „Urlaub“, im heutigen Sinne, kannte man damals nicht. Die paar Tage, die es gab, wurden für Arbeiten in Haus und Garten verwendet. Der Opa hat immer davon geschwärmt, einmal auf die Insel Helgoland zu kommen. Er hat es nie geschafft! Beide Söhne der Großeltern sind im zweiten Weltkrieg geblieben, das, und die politische Lage nach dem Krieg, haben ihn sehr verbittert.
Die Großeltern hielten
  Kaninchen, wie damals viele Leute, und auch eine Ziege, welche die „Beamtenkuh“ genannt wurde. Die gab regelmäßig Milch, aus der auch Butter gemacht. wurde. Manchmal gab es zum Essen eine dunkle Einbrennsoße mit Zwiebeln darin und Salzkartoffeln. Dieses Gericht hieß „Beamtenstippe“, das, und der Name der Ziege lassen den Schluss zu, dass Beamte damals, im Gegensatz zu heute, schlecht bezahlt wurden. Der Opa hatte über Jahre hinweg einen Hund, der immer wenn ich kam, mich giftig anknurrte und mir die Zähne zeigte. Der muss wohl wasserscheu und nachtragend gewesen sein, denn öfter, wenn mir langweilig war, habe ich ihn mit Wasser aus dem Schlauch im Hof umher- gescheucht. Das arme Tier hieß übrigens „Ralf“, es war schwarz und eine Mischung aus Schäferhund und Spitz. Am Hang hinter dem Haus standen zu der Zeit eine Menge Kirsch- bäume. Die hatte der Opa über Jahre hinweg gepachtet. Die Kirschen hat er geerntet und selbst verbraucht oder verkauft. Da es verschiedene Sorten waren, wurden sie natürlich zu unterschiedlichen Zeiten reif. Wir Kinder wussten damals sehr genau, wann. Da es alleine nicht so viel Spaß machte, habe ich die Jablonski-Kinder eingeladen, die im Dorf keinen besonders guten Ruf hatten, wenig später aber nach Polen ausgewandert sind. Prompt kam der damalige Dorfsheriff, ich glaube er hieß Braunschmidt, vorbei. Er kannte uns natürlich und fragte ob wir die Erlaubnis hätten. „Ja, ja“, sagte ich und dachte, damit wäre die Sache erledigt. Der Opa hat das Ganze sehr schnell erfahren und mir die Hölle heiß gemacht. „Die Kirschen sind noch gar nicht richtig reif“, (das war mir egal, es war das erste frische Obst im Jahr) und „ausgerechnet mit denen!“. Damit meinte er die Schmuddelkinder, aber das sind ja oft die interessantesten Spielkameraden. Damals hieß es immer: „Kein unreifes Obst essen!“ Und schon gar nicht Wasser dazu trinken. Dann hieß es: „Vor Johanni, das ist glaube ich Anfang Juni, nicht baden gehen!“. Das, und noch jede Menge mehr, gut gemeinter Ratschläge wurden einfach ignoriert und in den Wind geschlagen. Wir haben alles überlebt, und heute sind wir die „Alten“, mit Erfahrung und Lebensweisheit, auf die keiner hören will. Aber – so ist das Leben! Junge Menschen sollen und müssen ihre Erfahrungen selbst machen.

                                                                                                    
G.S.                   03.03.2009