Heimat – Jugendzeit,
4.Teil.
Erlebt und geschrieben von Gert Scharfe.
Während einer teilweise schlaflos verbrachten Nacht
habe ich in meinen Erinnerungen gekramt. Dabei sind mir noch eine ganze Reihe
von Details eingefallen und so habe ich mich entschlossen, einen vierten Teil zu
schreiben. Es ist ja bekannt, dass bei älteren Leuten das Langzeitgedächtnis
noch bestens funktioniert, aber mit dem Kurzzeitgedächtnis hapert es doch hier
und da. Also, warum sollte das bei mir anders sein? Bei intensivem Nachdenken
könnte es vielleicht sogar zu einem weiterem Teil reichen, das heißt, wenn ich
niemanden mit meinen Geschichten langweile.
Damals, das heißt in der Kriegs- und
Nachkriegszeit, ist mir aufgefallen, dass alte Leute nach ihrer Pensionierung
sich in ihre vier Wände zurückzogen und die geistigen und körperlichen
Aktivitäten weitgehend einstellten, bis man sie, mit den Füßen voraus, aus dem
Haus zur letzten Ruhe trug. Auch waren sie meistens dunkel angezogen, weil in
der oft weitläufigen Verwandtschaft immer mal jemand verstarb. Rückblickend muss
ich heute sagen, dass unsere Großeltern und Eltern doch viel bescheidener und
sparsamer gelebt haben, als heutige Generationen. Möbel z.B. wurden nur einmal
angeschafft und hatten ein Leben lang zu halten und zu funktionieren.
Sie waren damals sicher auch von besserer
Qualität als heute. Aber wenn ich an die Betten meiner Großeltern denke, bei
denen die Matratzen und die Sprungfederrahmen so durchgelegen waren, dass sie
fast bis zum Boden durchhingen, dann muss ich mich doch fragen, wie die Leute
damals ohne Rückenschmerzen über die Runden kamen.
Viele der heutigen Senioren sind
finanziell besser gestellt als damals, und bleiben meistens bis ins hohe Alter
aktiv. Dazu zählt für mich unter anderem auch die Arbeit am Computer, die
Teilnahme am öffentlichen Leben, eine, auch in prophylaktischer Hinsicht,
bessere medizinische Versorgung, sowie viel Bewegung an frischer Luft.
In der Hauptstraße.
Um meiner Mutter eine Freude zum Geburtstag, oder war’s zu Weihnachten? , zu
machen, hatte ich für ein paar Groschen eine dunkelgrüne Halskette aus
Glasperlen gekauft. Die kam mir sehr schön vor, und ich versteckte sie auf dem
Küchenschrank. Das Versteck war wohl nicht das Beste, denn als ich kurze Zeit
später in die Küche kam, schlenkerte meine jüngere Schwester das Ding
triumphierend um den Finger und lachte mich aus. Ich war so außer mir vor Zorn
und wütend, dass ich sie kaltblütig hätte erwürgen können.
Jedes Jahr an Weihnachten wurde ein Christbaum aufgestellt. Der wurde mit
wenigen Glaskugeln, mit ein paar Fäden Lametta, mit Wachskerzen in Haltern und,
jetzt wird’s interessant, mit selbstgebackenen Plätzchen und Zuckerkringeln
behängt. Der Baum muss für Klimmzüge wohl weniger geeignet gewesen sein, denn
beim Versuch von uns Kindern, an das Zuckerzeug zu gelangen, fiel er mehr als
einmal um und die Glaskugeln wurden mit jedem Mal weniger. Mindestens einmal
geriet er auch durch die brennenden Kerzen in Brand. Wie es uns gelungen ist,
den oder die Brände zu löschen, weiß ich heute nicht mehr, jedenfalls herrschte
immer helle Aufregung.
Bei den Großeltern.
Meine Großeltern hatten damals ein Haus in der damaligen Flemminger
Straße und Otto und Marie Löffler eines in der Pfortenstraße. Sie waren der
Bruder und die Schwägerin meiner Oma und pflegten ein geselliges und gutes
verwandtschaftliches Verhältnis. An hohen Feiertagen und bei Familienjubiläen
wurde hier oder dort im Haus, oder bei gutem Wetter in der Laube im Garten der
Großeltern oder auf Löffler’s „Teichfleck“, einem Gartengrundstück zwischen der
Pfortenstraße und der kleinen Saale, gefeiert. Im Haus der Großeltern wurde dazu
die „gute“ Stube benutzt, ein Zimmer, in dem sonst die Möbel mit weißen Tüchern
verhängt waren. Im Vorgarten der Großeltern stand auf der Ecke neben der Treppe
zum Hauseingang ein recht großer Fliederstrauch, weiß/gefüllt, und jedes Jahr im
Frühling wurde die Verwandtschaft und Bekannte mit Fliedersträußen bedacht.
Überhaupt versorgte man sich gegenseitig wie selbstverständlich mit Obst, Gemüse
und Salat aus dem eigenen Garten oder Feld. Auf Onkel Otto und Tante Marie komme
ich noch extra zu sprechen. Die Großeltern hatten eine Bodenkammer, eine Treppe
höher, als Bad ausgebaut. Ein Badeofen mit Holz- oder Kohlefeuerung, eine
emaillierte, freistehende Badewanne und eine Toilette mit Wasserspülung, der
Boden war mit Linoleum ausgelegt. Zu der Zeit war so ein Bad keine
Selbstverständlichkeit, denn bei vielen anderen Leuten war es zu der Zeit so,
dass sonnabendnachmittags die Zinkwanne in der Küche aufgestellt, und mit warmen
Wasser aus der „Blase“ oder „Schiffchen“ auf dem Küchenherd und zusätzlich ein
großer Topf voll Wasser erwärmt wurde.
Darin badete dann
die ganze Familie, erst die Kinder und dann die Eltern.
Warmes Wasser wurde bei Bedarf immer nachgeschüttet. Den Luxus mit dem Bad bei
den Großeltern habe ich immer gerne genossen. In der Wanne voll warmem Wasser
konnte man es stundenlang aushalten. Sonntags nachmittags machten wir öfter bei
schönem Wetter, zu Fuß, einen Ausflug nach dem „Krug zum grünen Kranze“ in den
Weinbergen. Dort war ein schöner Biergarten unter alten Kastanienbäumen, mit
Kies auf dem Boden und Klappstühlen und -tischen. Ganz so, wie man sich einen
Biergarten halt vorstellt. Belegte Brote (Bemmen) oder auch Kuchen wurde
mitgenommen und dort gegessen. Der Opa kaufte sich ein Bier, rauchte eine
Zigarre, die Oma bekam einen Kaffee und wir Kinder eine Brause.
Jedes Jahr im Frühling wurde der äußere Teil der großen Doppelfenster im
Wohnzimmer ausgebaut, im Schuppen im Hof gelagert und im Herbst, um Heizkosten
zu sparen, wieder eingebaut. Jedes Mal ein Riesenaufwand, aber sicher auch
notwendig und auch ein Stück Tradition. Aus heutiger Sicht ein Problem, dass
sich auch anders hätte lösen lassen.
Im Hof hinter dem Haus waren ein Stall für die Karnickel und die Ziege, daneben
eine Werkstatt mit Werkbank und Schraubstock. An der Wand hing ein Schrank aus
Sperrholz voll mit Werkzeug. Eines Tages hatte ich eine Ringelnatter gefangen,
wusste nicht wohin damit. Also kurzerhand den Schrank ausgeräumt, etwas Heu
eingestreut und die Schlange dort eingesperrt. Wie sich denken lässt, hat sich
der Opa furchtbar erschrocken und war über meinen „Privatzoo“ höchst erbost.
Auf dem Lindenberg.
Auf dem Lindenberg waren die Wohnverhältnisse dagegen eher bescheidener.
Das Plumpsklo befand sich zwei Stockwerke tiefer über den Hof. Für uns Kinder
war das kein großes Problem, für die Eltern schon eher, aber die hatten für
solche Zwecke sicher einen Nachttopf in Betrieb. Jedenfalls gab es auch jede
Menge Ratten in Hof und Garten. Es war meine Aufgabe, denen mit einer
Kastenfalle auf den Pelz zu rücken. Da ich wusste, dass eine gefangene,
eingesperrte Ratte nicht ganz ungefährlich ist, gab es eigentlich nur zwei
Möglichkeiten: Beide nicht unbedingt angenehm, nämlich erstens die Falle in eine
Wanne voll Wasser zu stellen, oder zweitens die Falle mit kochendem Wasser zu
begießen, das Geschrei war zwar fürchterlich, aber man sagte, das würde die
anderen Ratten vertreiben.
Eines Tages sah ich meinen Halbbruder Manfred, auf der Kommode sitzend, wie er
zwei Nägel in eine Steckdose steckte. Er flog im hohen Bogen bis in die Mitte
der Küche. Fortan, denke ich, hat er Steckdosen links liegen lassen. Auf dem
Hausboden gab es für die zwei obersten Wohnungen je ein Kinderzimmer, eines also
für uns. Das Dach war überhaupt nicht isoliert. Im Sommer sehr heiß, und im
Winter erbärmlich kalt. Aber das hat uns damals nicht weiter gestört. Wir hatten
ein Zimmer für uns, mit einer herrlichen Fernsicht bis Freyburg und Naumburg.
Jeden Regentropfen, der auf die Dachziegel fiel, konnte man hören, und wenn
draußen nächtliche Gewitter tobten, fühlte ich mich trocken und geborgen.
Bei Onkel Otto und Tante Marie Löffler.
Die beiden habe ich öfter besucht, denn offensichtlich konnte mich Onkel
Otto gut leiden und bei Tante Marie ging sowieso niemand aus dem Haus ohne ein
kleines Geschenk, und waren es nur ein Apfel, ein paar selbstgebackene Plätzchen
oder eine Hand voll Eier. Onkel Otto war während seines Berufslebens
Fahrdienstleiter in Naumburg bei der Reichsbahn und davon hat er mir oft und
gerne erzählt. Und schon sind wir wieder beim Langzeitgedächtnis.
Jedenfalls hatte er sich, aus welchen Gründen auch immer, schon mit Anfang
fünfzig pensionieren lassen und hat danach noch ein hohes Alter erreicht.
Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht.
Also, dass Mädchen etwas anders aussehen als Jungen wusste ich, da ich
ja zwei Schwestern hatte.
Aber es gab ja auch Schulkameraden, bei denen das nicht so war, und vielleicht
deshalb wurden gegen Ende der Schulzeit in der elterlichen Scheune von Ulrich B.
ab und zu Doktorspiele gemacht. Natürlich in aller Unschuld und unter viel
Gekicher und Gejuchtze.
Später habe ich herausgefunden, dass es in warmen Sommernächten unter den Eichen
an der Pferdeschwemme auch nachdem der nächtliche Tau gefallen war, immer
trocken war, und abgesehen von
Ameisen, keine Störung zu erwarten war.
Etwas komfortabler aber trotzdem sehr gefährlich ging es später bei einem
Mädchen zu, mit dem ich „ging“. Deren Eltern hatten eine Wohnung mit
so genannten „blinden“ Zimmern. Das heißt, die Zimmer
lagen so hinter- oder nebeneinander, dass man durch alle musste, um in das
Hinterste zu kommen. Kurzum, gelegentlich blieb ich eine halbe Nacht bei ihr und
da kam es schon mal vor, dass ihr alter Herr direkt am Bett vorbei kam, um auf
die Toilette zu gelangen. Wenn der mich bei der Gelegenheit erwischt hätte,
hätte er mich in der Luft zerrissen.
Da fällt mir nur noch ein Zitat meines Lieblingsschriftstellers Erich Kästner
ein:
„Aber seien wir mal ehrlich, Leben ist immer
lebensgefährlich“.
GS
19.
Apr. 2009