Kindheit im Krieg
Kindheit
in Naumburg hieß für mich Kindheit in Almrich. Das Sein begann als mein Vater
meine Mutter nahm. Trotz Winter war den Beiden warm.
Als ich 3
Monate alt war, hatte ich eine schwere Bronchitis. Die Hebamme riet meiner
Mutter mich heiß zu baden, kurz hochzuheben und mir kaltes Wasser auf die Brust
zu gießen. Ich schrie los und der Schleim löste sich. Daher kommt sicher meine
Angst vor Wasser, besonders vor kaltem. Bei schönem Wetter stellte man mich im
Kinderwagen auf den Hof, um mich herum die Hühner, das soll mir gefallen haben.
Passte wohl auch zu mir, denn nach den chinesischen Sternzeichen bin ich im
Jahre des Hahnes als Huhn geboren. Das Huhn das goldne Eier legt und auch in der
Wüste noch einen Wurm findet. Das war aber noch zu erhoffen.
Irgendwann bevor ich 3 Jahre alt wurde, zogen meine
Eltern zu Schirners auf den Lindenberg. Dort wurde mein Bruder und später meine
Schwester geboren. Der Winter muss sehr kalt gewesen sein und die Saale
zugefroren. Später kam Hochwasser, das Eis zerbarst in große Schollen und türmte
sich am Ufer auf. Tante Hannchen nahm mich an der Hand um mir die Schollen zu
zeigen. Ich versuchte darauf zu klettern, aber sie waren so kalt und glatt und
höher als ich und ich weiß noch, dass ich ein rotes Mäntelchen anhatte.
Später gab es noch richtig heiße Sonne, wir Kinder liefen barfuß, auf der
Saalebrücke war der Teer so heiß und weich, dass unsre Zehen einsanken und wir
meinten, es gibt Brandblasen. Das Gegenteil war der Winter, da war das eiserne
Brückengelände eisekalt. Wir wollten am Eis lecken und die Zunge gefror an. Die
Wege durch die Aue waren eine Erlebnis, in den Fahrrinnen stand oft das Wasser
aus dem Frösche hüpften. Aus dem Gras sprangen Heupferde.
Mit auf dem Flur wohnten Onkel und Tante Peter, mit Anni und Karlchen, den
großen Kindern. Karlchen hatte einen Fotoapparat und fotografierte mich. Wir
mussten immer leise sein, 3 Kinder, da musste man auch damals schon froh sein,
wenn man eine Wohnung bekam.
Es war Krieg und mein Vater wurde eingezogen, so hieß das. Ich habe es
wohl nicht so begriffen, aber als er das erste Mal aus Russland auf Urlaub kam,
wollte ich ihn nicht mehr weglassen und nahm mir vor, ihn an der Kleiderhänge
festzubinden. Früh war er dann weg. An meinem Vater habe ich sehr gehangen. Nach
dem Polenfeldzug, der in Naumburg gefeiert wurde, fuhr man die Soldaten aus dem
Flemminger Lazarett in Kutschen durch Naumburg. Ich wurde hochgehoben und gab
einem Soldaten ein Wickensträußchen, sah seinen verbundenen Arm und da dämmerte
es mir, dass Krieg etwas Schlimmes ist.
Als ich 6 Jahre war, zogen wir in den
Kindergarten. Das heißt, wir hatten in dem Haus eine Küche, Wohnzimmer und eine
dunkle Diele, im 2. Stock zwei Schlafzimmer. Ich wurde Ostern eingeschult. Ich
brauchte einen Ranzen. Den brachte Tante Rese. Ihre Tochter Erika hatte ihn
schon 8 Jahre zur Schule getragen, danach wurde er zur Einkaufstasche
umgearbeitet und nun wieder zum Ranzen. Die fehlenden Tragriemen wurden aus
einem Gürtel gemacht. Leder hält was aus, auf meinem Rücken wieder 8 Jahre und
danach wurde er wieder nach Almrich vererbt und getragen. In die Almricher
Schule bin ich gern gegangen. Der Lehrer Örtel war streng, sein Geigenspiel tat
weh. An der Rückwand der Klasse standen große Regale auf denen wurden
Seidenraupen mit Maulbeerblättern gefüttert. Die hatte man neben die Treppe
gepflanzt, die von der Hauptstraße zur Flemminger Straße führte. Mittlerweile
war Krieg und aus den Kokons der Raupen, wurde Seide gemacht für Fallschirme.
Die Schule in Almrich im Unterdorf hatte 2 Klassen für 4 Jahrgänge. Der Lehrer
Herr Örtel hatte schon meine Eltern unterrichtet (oder war es Rodrian). Er war
streng, es gab Strafen, in der Ecke stehen, mit dem Schlüsselbund auf die Finger
hauen, das traf auch mal mich, mit dem Rohrstock auf den Hosenboden der Jungen.
Der Lehrer spielte auch auf der Geige, mit dem Erfolg, dass ich bis heute kein
Geigenspiel mag. Unsere Handarbeitslehrerin war Frl. Bartolomäi, die hatte ich
sehr gern. Sie lernte uns häkeln. Erst meterweise Luftmaschen, beim Spiel als
Pferdeleine zu benutzen. Später nachdem wir feste Maschen und Stäbchen
beherrschten, durften wir aus dünnem Garn Deckchen häkeln. Die Deckchen waren
rund mit Muster. Ein Verwandter von Frl. Bartolomäi schnitt uns runde
Glasscheiben. Die Deckchen waren etwas größer als die Scheiben. Durch den Rand
wurde eine farbiges Band gezogen, die Glasscheibe auf das Deckchen gelegt, das
Band festgezogen und eine Schleife gebunden. Das war dann ein Untersetzer für
eine Kaffeekanne. Nach dem 4. Schuljahr ging ich nach Naumburg auf die
Mittelschule. Da ging 1944 der Krieg dem voraussehbaren Ende entgegen, immer
noch wurde der Sieg beschworen.
Für uns Kinder sah es so aus: Früh reinlaufen zur
Schule, 1 Std. Unterricht, Voralarm, alle in den Keller. Wir Dorfkinder hatten
in dem Keller Angst, alle hatten Angst und das Übertrug sich. Also rannten wir
bei Voralarm los, Richtung Almrich. Spätestens bei der Schweinsbrücke gab es
Vollalarm und da waren auch schon die Tiefflieger über uns. In die Keller der
angrenzenden Häuser konnten wir nicht, sie waren verschlossen aus Angst vor
feindlichen Fallschirmspringern.
Es kam vor, dass die Flak ein Flugzeug abschoss und der Pilot sich zu retten
suchte. Das geschah einmal. Der Pilot wurde von einem Deutschen festgenommen und
ins Spritzhaus gesperrt. Vorher schenkte er einem Mann seine Uhr. Später hörten
wir, dass man den Mann erschossen hätte. Da nahm ich mir vor, wenn ich so einen
Fallschirmspringer finde, würde ich ihn bei uns hinter der Bodenkammer
verstecken, ihm was zu essen bringen und einen Anzug von meinem Vater. Der Fall
trat zu unserem Glück nicht ein, man hätte uns umgebracht, es wär ja doch
rausgekommen.
Während wir Kinder nun nach Hause rannten und die Tiefflieger über uns waren,
sah ich einmal sogar den Piloten in seiner Kanzel, er hatte eine eng anliegende
Ledermütze auf. Die Geschosse spritzten um uns herum auf das Pflaster, er musste
sehen, dass wir Kinder waren. Wir hatten einen Schutzengel. Ich wusste hinterher
nicht mehr, wie ich den Hang runter und unter die Schweinsbrücke gekommen bin.
Zuhause Schularbeiten gemacht, so gut es ging.
Nachts war dann wieder Alarm. Wir standen am Fenster und sahen in der
Dunkelheit die Christbäume am Himmel, das war Leuchtmunition, sie galt zur
Orientierung, wegen Leuna. Abends mussten wir unsere
Kleidung so auf den Stuhl legen, dass wir
sie bei Alarm im Dunkeln anziehen konnten oder nehmen und damit in den Keller
gehen. Einmal merkte meine Mutter, dass meine Schwester fehlte, sie war wieder
ins Bett gekrochen und schlief weiter. Es war eine Zeit der ständigen angst und
ganz nüchtern denkend, rechnete man damit das Leben zu verlieren. Es war eine
Normalfall der keine Panik aufkommen ließ.
Mein Vater war das 4. Jahr in Russland, Estland, Lettland und Litauen. Er
schickte manchmal ein Päckchen. Ölsardinen, eine von Russen gefertigtes
Spielzeug, eine Platte mit einem Griff, darauf Hühner und ein Hahn, alles aus
Holz und bunt bemalt. Die Hühner waren durch Fäden mit einem Klotz verbunden,
der unter einer Platte hing. Wenn man den Klotz schwenkte, pickten oben die
Hühner. Einmal schickte er Wolle, die hatte er gegen Zigaretten eingetauscht.
Als meine Mutter die Wolle vom Knäuel wickelte, kamen lebende Läuse zum
Vorschein. Die kostbare Wolle musste verbrannt werden, die Läuse hätten
Fleckfieber übertragen können. Einmal schickte er ein Schultertuch aus weißer
Schafwolle mit einem wunderschönen Muster gestrickt. Wir mussten es auftrennen
und es wurden Pullover daraus gestrickt, die waren nötiger. Beim letzten Urlaub
erzählte mein Vater für mich Unbegreifliches. Er hatte Kontakt zur Bevölkerung,
was einem deutschen Soldaten streng verboten war. Er lief und kam an eine tiefe
frisch geschachtete Grube. Als er wieder in das Dorf kam, standen die Häuser
leer. Er ging hinein, da lagen die Schulsachen der Kinder, ...., das Geschirr
stand auf dem Tisch. Später erfuhr er, sie waren alle am Rande der Grube
erschossen worden.
Mein Vater war Feldgrauer Eisenbahner, nicht bei der kämpfenden Truppe, er zog
mit der Lokomotive, schlief im Lockschuppen. Es war Partisanengelände aber er
ging mit der Bevölkerung aufs Feld zur Ernte und die Bauern sagten: “Fritz wenn
du bei uns bist, passiert dir nichts und so war es auch. Meine Mutter musste ihm
Blumensamen ins Feld schicken und den schenkte er den Bäuerinnen. Später
erzählte er vom russischen Sommer, hatte uns auch Wollgras im Brief geschickt,
das kannten wir nicht. Ein Kamerad von ihm, der wohl nicht beliebt war, wurde in
der Tür des Schuppens erschossen.
Wir in der Heimat lasen die Eier, Larven und Kartoffelkäfer vom Kartoffelfeld,
barfuß eine Büchse in der Hand sammelten wir das Viehzeug ab, der Lehrer
vernichtete es, wie weiß ich nicht. Sie hießen auch Coloradokäfer und der
Amerikaner hätte sie abgeworfen. Um den Funkverkehr zu stören, wurde so
genanntes Lametta abgeworfen. Das waren ganz schmale silberfarbene Streifen. Wir
Kinder mussten sie aufsammeln und abgeben. Sie hingen auch unerlaubterweise an
manchem Weihnachtsbaum. Auch die Flugblätter, die der Feind zu unserer
Information abwarf, musste wir sammeln und abgeben. Wir durften sie nicht lesen,
was wir natürlich doch taten. Wir wollten keinen Krieg, wir wollten sein Ende
und überleben. Tante Dorle, die mit der kleinen Bärbel als Flüchtlinge bei uns
lebten, hatte im Kleiderschrank ein Radio versteckt. Dort hörten wir heimlich
den Feindsender, der uns riet aufzugeben. Wir waren ja dazu bereit, hatten aber
nichts zu sagen. Es war streng verboten, das zu hören, das war
Wehrkraftzersetzung. Der Mann von Tante Dorle, Herbert, war auch im Krieg.
Dann kam das Frühjahr 1945. Auf der Landkarte wurde täglich mit Fähnchen
abgesteckt, wo der Feind stand. Über den Rhein konnte er nicht kommen, er kam.
Die vielbeschworene Waffe, die V1 oder V2 war ein Phantom. Unaufhaltsam kam er
über Deutschland, uns war alles recht, nur ein Ende des Mordens.
Was mir in schrecklicher Erinnerung ist, ich stand stundenlang, tagelang am
Fenster und sah in Fünferreihen Elendsgestalten Richtung Westen ziehen. Manche
schleppten, schleiften einen Kameraden mit, mehr tot als lebendig. Es waren
Kriegsgefangene, die man vor der Front zurück zog. Manche hatten eine
durchlöcherte Blechbüchse mit Glut an zwei Drähten zwischen sich. Neben dem
Tross liefen deutsche Soldaten als Bewacher, sicher sich dessen bewusst, dass
sich das Blättchen wendet. Almricher Frauen kamen und brachten ein Stück Brot
oder was sie noch Essbares hatten. Eine brachte einen alten hochrädrigen
Kinderwagen, da legten sie einen Kameraden rein, der nicht mehr laufen konnte.
Die deutschen Wachen sagten nichts, trotzdem es streng verboten war.
Noch schlimmer war der Elendszug von Männern in blau-weiß gestreifter Kleidung,
scharf bewacht. Ich sah es vom Fenster aus. Die Bevölkerung hatte Angst, keiner
traute sich hin. Es waren KZ-Häftlinge. Auf den Pfortenwiesen wurde einer
erschossen, es war wohl der Gnadenschuss. Viele, viele Jahre später treffe ich
eine Frau, die erzählte mir: Sie ist aus Ostpreußen noch rausgekommen, zu Fuß,
hochschwanger. Unterwegs hat eine Hebamme schwangere Frauen um sich gesammelt,
sie sind durch Almrich gezogen und auf der Pfortenwiese hat sie unter einem Baum
ihr Kind bekommen, ein Mädchen, es lebt. Tod und Leben. Der Wahnsinn des Krieges
mußte bald seinem Ende entgegen gehen. Ein Ende mit Schrecken, aber uns lieber
als ein Schrecken ohne Ende. In unserem Garten bauten Soldaten unter dem
Rosenbeet einen Unterstand, die Rosen pflanzten sie zur Tarnung wieder oben
drauf. In Großmutters Waschküche lag die Munition. Großmutter wollte nochmal
waschen. Sie trug die Handgranaten in den Hof und lehnte sie alle an die
Hauswand. Sie wusch ihre Wäsche und hing sie im Hof auf. Als die Soldaten
zurückkamen, sagten sie: “Mutter sie hätten das ganze Haus in die Luft sprengen
können.” Im April mussten auch die Kartoffeln gelegt werden, von Hand in die
Furchen. Zwei Pferde und der Wagen mit Setzkartoffeln standen auf dem Feld, die
Frauen legten die Kartoffeln. Bei Fliegeralarm nahm der Bauer die Pferde und im
Galopp ging’s in den Wald. Die Frauen suchten Schutz unter dem Wagen.
In den Weinbergen hatten sich die Hitlerjungen aus der Napola verschanzt, Kinder
mit Waffen. Mein Großvater ging mit einem andern Mann hin und überredete sie
heimzugehen, was auch glücklich gelang.
Die alte Saalebrücke vor der Zerstörung
Wir packten unsre Sachen was wir tragen
konnten und zogen in die Weinberge in den Keller in Hülsens Berg. Da waren auch
einige Serben, Kriegsgefangene die im Dorf arbeiteten und im Krug schliefen.
Bewacht von Rudi. Rudi hatte furchtbare Angst, dass ihn die Amerikaner
erschießen würden. Aber die Gefangenen beruhigten ihn mit den Worten: “Wir
schützen dich, du warst gut zu uns.” Vorsichtshalber zog Rudi seine Uniform aus,
band Uniform und Gewehr zu einem Bündel und ließ es an einem Bindfaden in den
Brunnen herab. Wir lagen acht Tage und Nächte auf Stroh voller Angst und
Spannung, aber die Frau des Winzers lief immer wieder in das Winzerhaus rüber
und kochte für alle Weinsuppe mit ein bisschen Mehl angedickt. Das machte uns
angenehm schläfrig. Ihr Feuer im Ofen sollte möglichst keinen Rauch machen, in
dem Glauben, die Flieger sehen das Haus nicht. Die Deutschen nahmen an, dass die
Amis über die Saalebrücke kommen. Um das zu verhindern, wurde die schöne fünfzig
Jahre alte Brücke gesprengt. Ein Wahnsinn, einer meiner Urgroßväter hatte sie
mit gebaut. Wir hörten die Detonation und sahen die Trümmer hochfliegen. Aber
die Amis kamen über Möllern, über die Höhe. Stunden zuvor war nach all dem
Gedonner und Gedröhne eine Totenstille, unheimlich. Dann eine Stimme, zwei
gegrätschte Beine in der Tür, der Ami war da, guckte in den Keller runter,
stellte sich wieder oben hin, nach einer Weile war er weg. Wir blieben noch eine
Zeit im Keller. Die Front war über uns weggerollt, uns war nichts geschehen, wir
lebten. Die Welt stand noch, es war fast enttäuschend. Ich weiß nicht was die
Großen machten. Wir Kinder wurden auf die Wiese geschickt und da sind wir wie
die jungen Ziegen herum gesprungen. Ich sagte irgend etwas zu meiner Cousine und
ihre Mutter gab mir daraufhin eine Ohrfeige. Ich nahm es ihr nicht übel, die
Hauptsache der Krieg war für uns aus. Später erzählte Großvater, das erste war
die Ziegen melken und die Kaninchen füttern. Dann kamen viele Lastwagen, waren
wohl Versorgungsfahrzeuge, die hatten sich verfahren, mussten wenden, das ging
nur auf Großvaters Wiese. Ein Neger brach dabei einen Pflaumenast ab, darauf
ging er zu meinem Großvater und wollte den Ast bezahlen. Mein Großvater winkte
nur ab.
Zur gleichen Zeit, als die Almricher Brücke gesprengt wurde, sollte auch die
Kösener Brücke gesprengt werden. Man hatte die Zündschnur zur Brücke durch den
Garten eines Anwohners gelegt. Der sehr beherzte Mann nahm seinen Spaten und
durchtrennte die Schnur, so wurde die Brücke gesprengt. Außerdem war es so
sinnlos die Brücken zu sprengen, die Saale war ganz flach.
Also der Krieg war für uns aus, die Buchen hatten zartes grünes Laub, die Vögel
sangen, es war wie Auferstehung. Wir packten unsre Sachen. Ob das Haus noch
steht, was werden wir vorfinden? Wie kommen wir über die Saale? Also liefen wir
auf dem Damm bis zum Fischhaus, dort mit dem Kahn übergesetzt und auf dem
anderen Damm nach Hause. Wir spürten die Freiheit, eine neues Leben, neues
Beginnen. Das Haus, ich glaube alle Häuser standen noch. Wieder in der Wohnung
holte meine Mutter das Hitler-Bild von der Wand. Damit hatte es seine
Bewandtnis. Ursprünglich war es ein Hochzeitsgeschenk, das Bild Luthers. Später
musste Luther mit einem Hitler-Bild verdeckt werden. Nun das Hitler-Bild raus
und Luther wieder rein. Dann verbrannte sie alles was mit Hitler zu tun hatte.
Aus den Handarbeitsheften wurden die Seiten herausgerissen, die Schulbücher
geledert. Die Fahne wurde aufgetrennt, der weiße Kreis und das schwarze
Hakenkreuz vom roten Stoff. Man konnte nichts wegwerfen, man hatte ja nichts.
Ein Kind von Eichstätts bekam eine rotes Kleid mit schwarz und weiß abgesetzt.
Not lehrt beten. Die Sorge galt jetzt den Männern die im Krieg waren, lebten sie
noch? Meine Mutter oder Tante Dorle sagten: “Wenn doch wenigstens einer schon
nach Hause käme.” Aber wie grausam wäre das für die Andere gewesen. Es grenzt an
ein Wunder, beide Männer kamen, aus ganz verschiedenen Richtungen an einem Tag
nach Hause. Wir waren bei den Großeltern in den Weinbergen. Meine Mutter stand
oben auf der Leiter im Kirschbaum, da sah sie einen Mann auf dem Fahrrad über
die Saalebrücke kommen, den sie aber nicht erkennen konnte und sagte: “Das ist
Vati.” Er war es, stand unter dem Kirschbaum und meine Mutter war nicht fähig
herunter zu steigen. Ich warf mich an meinen Vater, aber er schob mich weg. Im
ersten Moment ein Schock aber dann begriff ich, er war voller Ungeziefer. Er war
mit der letzten Lokomotive aus Russland gekommen. Viel später wurden auch unter
seiner Regie die alten Dampfloks verschrottet. Undank ist der Welt Lohn. Er
musste sich registrieren lassen, bekam eine Lebensmittelkarte und wollte wieder
arbeiten. Da er in der Partei war, als Beamter musste er es, durfte er nicht
mehr ins Büro sondern musste Lokomotiven putzen. Die Loks wussten wohl schon,
was er ihnen später antun würde und waren ihm feindlich gesinnt. Er hatte
dauernd kaputte Hände.
In diesem Sommer 1945 taten wir was wir schon die letzten Jahre getan hatten,
für etwas zu essen zu sorgen. Ich erinnere mich, Sommer 44, ich hatte solchen
Hunger. Meine Mutter sagte, geh in den Garten, vielleicht ist eine Tomate reif,
sie war noch halb grün ,aber ich aß sie. Es gab Brot mit Kaffee nass gemacht und
Zucker drauf gestreut. Es gab Kartoffeln und im Sommer Gemüse aus dem Garten.
Von Großmutter jeden Tag Ziegenmilch. Wenn ein Böckchen oder Kaninchen
geschlachtet wurde, wurden wir zum Essen eingeladen oder bekamen ein Stück
Fleisch. Einmal schickte die Großmutter aus der Pfortastraße die Keule einer
kleinen Ziege durch meine Mutter zu Großmutter in den Weinbergen. Meine Mutter
nahm ein Messer mit und unterwegs ging sie in den Graben und schnitt sich
heimlich ein Stück ab. Ja, und dann war das Stoppeln, das hieß sammeln was auf
den Feldern liegengeblieben war. Ich glaube die Bauern ernteten in dieser Zeit
bewusst schlecht ab. Ähren lesen, Kartoffeln, auch halbe, auswühlen. Erbsen
lesen, Erbse für Erbse. Schlimm war Zuckerrüben rausholen, die Erde war kalt,
oft nass, das Wetter kalt und frostig. Einmal war durch Funkenflug der Eisenbahn
ein Gerstenfeld in Brand geraten. Da durften wir uns die angekohlten Ähren
holen, mussten aber die Hälfte davon abgeben. Wir waren alle schwarz wie die
Mohren. Beim Erbsenlesen rutschten wir auf Knien übers Feld, jeder hatte einen
Streifen in seiner Körperbreite. Am Feldrand, hoch zu Ross der Aufseher. Eine
Frau holte sich Erbsen vom noch nicht abgeernteten Feld, da nahm er ihr das
Säckchen weg und verstreute die Erbsen. Mit auf dem Feld war auch Großvaters
Hund “Molli”, der blieb beim Tragkorb sitzen, am Rand des Feldes, knurrte jeden
an der sich näherte. Im Tragkorb lag unser trockenes Brot und davon bekam Molli
ein Stück ab. Die Gerste, alles Getreide, wurde selber gedroschen. Dazu wurde
eine große Plane ausgelegt, darauf das Fahrrad gelegt. Einer drehte die Kurbel
und der andere hielt die Ähren in das sich drehende Rad. Da flogen die Körner
heraus. Dann wurden sie in einer flachen Schüssel geschwenkt und der Wind blies
die Spelzen davon. Die getrockneten Körner kamen auf den Boden, Vorrat für den
Winter und als wir sie dann holten, waren die Kornkäfer drin. Ich glaube die
Körner wurden ins Wasser getan, die Käfer sollten rauskommen, aber sie waren
teils noch hinter einem Deckelchen im Korn. Wir mussten sie essen. Die
gestoppelten Kartoffeln musste man verstecken, denn es kamen Kontrollen. Wer
über eine bestimmte Menge hatte, musste abgeben. Also packten wir die Kartoffeln
auf den Spitzboden, bei einem plötzlichen Frosteinbruch sind sie angefroren, wir
haben sie gegessen, Süßkartoffeln.
Wir hatten selbst nicht genug, aber es gab die Flüchtlinge die hatten noch
weniger. Eine Flüchtlingsfrau kam einmal zu meiner Großmutter und sagte: “Haben
sie nicht ein Tischchen für mich?” Großmutter holte ihr eins vom Boden, da stand
das Tischchen nun im Hof und die Flüchtlingsfrau davor, stumm und ging nicht.
Großmutter sagte: “Wollen sie noch was?” Ja, sagte sie, haben sie nicht ein
Deckchen, Großmutter hatte. Als Großmutters Schwester tot war, blieb ihre
Unterwäsche und Kleidung im Haus. Eines Tages kam die Dampen Jule, ein
Flüchtling, Kommunistin, es hieß sie ist Hunde. Was wohl stimmte, Molli
gebärdete sich wie wild, wenn sie kam. Großmutter gab ihr die erbetene
Unterwäsche, Großvater war dagegen. Aber Großmutter gab ohne Ansehen der Person.
Großmutter, 1883 geboren, war noch aus der Zeit wo es “Gnädige” gab und als
Näherin nähte sie in Schulpforta für die feinen Leute. Die schenkten ihr oft
abgelegte Kleider, Gardinen, Decken und Deckchen, die von den adligen Töchtern
bestickt waren. Wunderschön aber schon unmodern, mir gefielen sie. Mir sind noch
heute die Namen ein Begriff, einige liegen in Pforte auf dem Friedhof. Aus deren
abgelegten Kleidungsstücken bekamen wir Kinder Kleidung. Im Krieg hatten auch
die feinen Leute nichts zu essen, vielleicht weniger als die Landbevölkerung.
Sie kamen zu meiner Großmutter und aßen mit am Tisch. So lernten wir Kinder
erstklassige Manieren und auch schöne Lieder. In Schulpforta war die Frau P.
Ihren Mann hatten die Amerikaner mitgenommen, das war sein Glück. Für diese Frau
und deren Kinder flickte meine Großmutter. Frau p. ging mit ihren Kindern aufs
Feld stoppeln, das jüngste eine Baby. Meine Großmutter sagte, aber lassen sie
mich doch aufs Feld gehen, ich bin es gewöhnt und bleiben sie zu Hause. Frau P.
sagte, ich habe flicken nicht gelernt, aber aufs Feld kann ich gehen. Später als
die Russen da waren, musste Frau P. aus ihrer Wohnung raus. In ihrem Keller
lagerten die Russen ihre Vorräte. Zwei Jungen von ihr holten sich davon aus dem
Keller. Einer zwängte sich von außen durch die Gitterstäbe, nahm was in die
Hosentaschen ging, der andere lief vor dem Fenster auf und ab. War Gefahr im
Verzug pfiff er: “Horch was kommt von draußen rein ...”, war die Luft rein ein
anderes Lied. Von der Diebesbeute bekam meine Großmutter etwas ab. Später konnte
Herr P. seine Familie nachholen. Mit ihrem Umzugsgut brachten sie uns eine große
Kiste Eingemachtes mit, da waren wir auch schon im Westen.
Als die Russen
einige Wochen nach den Amis einrückten, fing eine schlimme Zeit an. Ein guter
Kollege verriet meinem Vater, dass er nach Russland sollte, da wäre er
vielleicht nie wieder gekommen. Im Mai 46 fuhr er im Bremserhäuschen, angetan
mit seiner Eisenbahneruniform und einer Aktentasche mit etwas zu essen über die
Grenze nach dem Westen. Auf Fragen musste ich sagen, mein Vater ist in Zwickau,
ich wusste nicht wo das lag. Im Okt. 46 ging ich früh Milch holen, da guckte aus
dem Bär (Gasthaus, abgerissen) Lotte heraus und sagte: “Kleene sag deiner Mutter
morgen geht ein Lastwagen nach dem Westen.”Ich holte die Milch und vergaß alles.
Erst am Mittag fiel es mir wieder ein und ich sagte es meiner Mutter. Ich
erwartete eine Strafe, aber sie tat mir nichts. Das Mittagessen Kartoffelmus mit
Tomatensoße blieb stehen. Meine Mutter lief zu ihren Eltern, was soll ich
machen. “Geh und nimm die Kinder mit.” Dann zu ihren Schwiegereltern. “Geh und
lass die Kinder hier.” Dann kam sie zurück, holte den alten Kinderwagen aus der
Bodenkammer und gab mir Anweisungen, was ich hineintun sollte. Für jedes Kind 3
Hemden, 3 Leibchen, 3 Paar Strümpfe, 3 Schlüpfer den Nähkasten, Bügeleisen, kein
Spielzeug. Es hieß wir fahren zum Vati. Meine Schwester fing an zu heulen, sie
wollte ihren Teddy Schnurzel mitnehmen, meine Mutter erlaubte es. Da wollte ich
auch meine Puppe Gretchen mitnehmen. Damit sie es nicht merkte, versteckte ich
meine Puppe unter dem Nähkästchen. Als wir später den Kinderwagen auspackten,
war Gretchens Kopf zerquetscht. Dafür fand sich im Nähkasten ein Puppensieb,
Durchmesser wie ein Groschen. Das war unser erstes Kaffeesieb im Westen. Später
packte meine Mutter noch 2 Federbetten auf den Kinderwagen, alles wurde fest
zusammen geschnürt. In der Dunkelheit holte Großvater uns mit dem Handwagen ab,
es durfte uns keiner sehen. Wir schliefen diese Nacht bei den Großeltern. Die
Großmutter nähte in der Nacht längere Ärmel in unsere Wintermäntel, aus einem
roten Fensterfries. Am Nachmittag war meine Mutter noch in der Tankstelle Öltze
gewesen, sich zu vergewissern, dass er uns mitnahm. Das Auto war ja von anderen
Leuten bestellt und die hatten dann auch ihren ganzen Hausrat auf der
Ladefläche. Am nächsten Morgen, früh 4 Uhr, fuhr der Großvater den Kinderwagen
auf dem großen Handwagen zu Öltze. Meine Mutter ging ins Büro und wollte was
zahlen, er wollte nichts. Nun war es aber so, als die Amis unter den stehen
gebliebenen Bogen der Saalebrücke ihre Kraftfahrzeuge stehen hatten und das
Ersatzteillager, hatte Emil, Flüchtlingsjunge der im Kindergarten wohnte, einen
Lastwagenschlauch gestohlen, der blieb liegen, als Illis weg mussten. Den hatte
meine Mutter und ihn Herrn Öltze gezeigt. Der war darüber höchst erfreut, der
war ihm mehr wert als alles Geld.
So wurde unsere Flucht mit Diebesgut bezahlt. Wir kletterten auf die Ladefläche
der Kinderwagen wurde verstaut, alles schweigend, und ab ging es. Im Führerhaus
saß eine evangelische Schwester neben dem Fahrer, sie hatte eine Urne mit der
Asche eines Toten auf den Schoß. Das Auto fuhr mit Holzgas, das heißt in den
Ofen, der hinten auf der Ladefläche stand, musste in Abständen Holz nachgelegt
werden. Wer daneben saß, hatte es warm in der schon kalten Nacht. Wir kamen ins
Sperrgebiet. Ein großes Hoftor tat sich auf, das Auto fuhr rein, das Tor ging
wieder zu. Jetzt war es Tag. Die Leute mit den Möbeln gingen ohne uns los. Der
Bauer erklärte uns den Weg. Lotte und die Schwester gingen mit uns. An einem
Waldrand, vom Gebüsch halb verdeckt. Der Weg war von Rinnsalen durchzogen. Links
im Feld eine großes Haus, da waren die Russen. Ob sie uns gesehen haben, weiß
ich nicht, es soll grade Wachwechsel gewesen sein. Für alle Fälle hatte meine
Mutter eine Flasche Kartoffelschnaps dabei, Selbstgebrannter. Von der Aufregung
bekam meine Mutter ihr Asthma, sie zog den schweren Mantel aus und warf ihn auf
den Kinderwagen. Da musste ich den Wagen schieben, obendrauf saß meine jüngere
Schwester. Nach einer Weile kamen wir an eine Straße und ein Mann sagte, sie
sind im Westen. Ich merkte noch wie mir schwarz vor Augen wurde und ich in den
Straßengraben kullerte. Als ich wieder zu mir kam, kroch ich die Böschung hoch.
Ich hatte mich total überanstrengt. Ein Lastwagen kam, nahm uns gegen den
Wiederstand des Beifahrers mit zum nächsten Bahnhof. Wir erwischten einen Zug
Richtung Westen. Meine Kindheit war endgültig zu Ende. Die Heimat verloren.
Waltraud Lack geb. Löffler, Wolfersdorf (1930er/40er Jahre)