Mein neues Almrich -
Gefühl
Ich habe eine Weile überlegt, ob ich das aufschreibe. Denn
ich möchte auf jeden Fall vermeiden, irgendwie pathetisch zu klingen. Aber
letztlich ist es so: Die Almricher Website hat dazu beigetragen, dass ich ein
Stück Heimat „wiederentdeckt“ habe und mit guten Gefühlen
an die
Almricher Jahre zurückdenken kann.
Lange Zeit war das nicht so. Der Auslöser: Mein Autounfall im November 1962
auf der Fahrt von Berlin zu meinen Eltern im „Bär“. In
der Nähe von Hohenmölsen versagte die Lenkung des Trabi, der Fahrer gab Gas
statt zu bremsen, die Kiste überschlug sich. Mit diesem Unfall war ich nicht nur
aus dem Auto, sondern vorerst auch aus allen beruflichen Vorhaben katapultiert.
Sechs Wochen dauerte der Krankenhausaufenthalt, weitere zwei Monate der
Genesungsprozess.
Noch als ich im Krankenhaus lag, kam ein anonymer Brief bei meinen Eltern an.
Darin war zu lesen, dass es mir ganz recht geschehen sei, „mal richtig auf die
Fresse gefallen zu sein“, weil ich doch immer
was Besseres hätte sein wollen, schon früher in Almrich,
als ich oft nicht gegrüßt hätte. Und
später dann sei ich „großkotzig und in
Stewardessen-Uniform“ im Taxi vorgefahren usw. Das mit der Uniform stimmte schon
mal gar nicht, während das Nichtgrüßen tatsächlich
vorgekommen
ist. Darüber hatte sich seinerzeit auch meine Mutter aufgeregt – schließlich war
das in ihren Augen geschäftsschädigendes Verhalten. Deshalb ist ihr sogar mal
die Hand ausgerutscht, was ich ihr lange übel genommen habe. Ich war da schon
15,
und irgendwie hatten wir Jugendlichen damals ja auch mit der Pubertät zu
kämpfen. Bloß hat das wohl keinen interessiert. Außerdem war ich auf dem Weg zur
Schule oft in Gedanken, zum Beispiel, wenn eine Physikarbeit anstand, denn ich
hatte null Abstraktionsvermögen und bekam meist schlechte Noten. Tja, und
Liebeskummer gab es damals auch schon! Da konnte man das Grüßen schon mal
vergessen.
Jedenfalls tat dieser anonyme Brief verdammt weh,
mindestens
so weh wie meine Rippenserienbrüche. Und für mich stand fest: Mit Almrich will
ich nichts mehr zu tun haben. Man ist ja sehr absolut in den Reaktionen, wenn
man jung ist. Ich war danach mehr als 20 Jahre nicht mehr in Almrich.
Seit ich im Herbst vorigen Jahres zum ersten Mal die
Almricher Website besuchte, hat es mich zuerst einfach nur erstaunt, mit wie
viel Engagement und sicherlich großem Zeitaufwand die Macher und
Materiallieferanten zu Werke gehen. Bald entpuppte sich das Ganze für mich Stück
für Stück als ein ganz besonderes Geschichts- und Geschichten-„Buch“. Die Liste
aus dem Jahr 1948 mit dem in Almrich ansässigen Gewerbe hat mich schwer
beeindruckt. Was war das mal für ein lebendiges Gemeinwesen! Großen Spaß macht
es mir, die spannenden und bemerkenswerten Geschichten über Firmen oder Personen
zu lesen. Ich staune, an wie viele Details sich beispielsweise Heinz Reumann
oder Rolf Elste erinnern können. Und nicht zuletzt sind die Fotos eine Fundgrube
für Erinnerungen, während Berichte
über aktuelle Ereignisse und die neueren Fotos eine Art Anwesenheitseffekt
auslösen.
Wenn ich inzwischen ohne Ressentiments via Internet durch Almrich
spaziere, tauchen ganz nebenbei auch wieder eigene
Erinnerungen auf. Allerdings hat der „Bär“ nicht besonders viel Zeit für
Freizeit gelassen. Denn das „Wirtstöchterlein“ musste mit ran. Vor allem in der
Küche. Eine meiner Hauptaufgaben bestand darin Kaffee zu mahlen. Die Handmühle
hing an der Wand, an die ich mich lehnte und manchmal stundenlang
leierte. Viel ging ja nicht in die kleine Glasschütte
rein, die dann in eine Büchse entleert wurde. Meine Mutter legte Wert auf den
guten Ruf ihres Filterkaffees, der nur in heiße Tassen gefüllt werden durfte,
die in brühheißem Wasser in einem riesigen Topf „schwammen“. Die Kaffeemenge
wurde pro Tasse auf der Briefwaage abgewogen, witzigerweise waren sechs und eine
Drittel Gramm vorgeschrieben. Neulich fiel mir auch ein, wie mich Direktor
Grober mitten aus dem Unterricht losschickte - und das nicht nur einmal -, um
’ne Flasche Helles zu holen. Die trank er dann gleich aus, wartete nicht etwa
auf die Pause. Wir Mädchen haben aber besonders Lehrer Rudi Schmid geliebt, vor
allem wegen der von ihm organisierten, abenteuerlichen Ferienwanderungen.
Unvergessen, wie er uns, während wir schon auf unserem
Strohlager lümmelten, zum Einschlafen ein „Betthupferl“ vorbei brachte.
In meiner Erinnerung ist auch „Jim“ wieder lebendig
geworden. Ebenso der von ihm gefertigte Schreibtisch, der bis 2002 noch in
Nutzung war. Jim war
auch ein guter und sehr hilfreicher Motorradfahrer. Viele Male hat er mich mit
meinem verknacksten Knöchel
nach Naumburg zur Oberschule gefahren und wieder
abgeholt. Jahre später gestand mir meine Mutter, dass sie mich eigentlich gern
mit ihm verkuppelt hätte!
Anders als mein Vater hat sie mir übrigens erlaubt, auch mal auszugehen.
Schwierig war nur das unbemerkte Heimkommen. Unsere Verabredung lautete: Ich
muss spätestens Mitternacht zurück sein. Sie öffnet kurz vorher die Luke zur
Speisekammer, räumt den großen Tisch unter der Luke etwas frei,
und ich krieche durch die Luke auf den Tisch.
Danach musste ich nur noch schleunigst und geräuschlos die Treppe hoch kommen
und ins Bett finden. Ungewaschen, denn eine Waschmöglichkeit gab’s nur in der
Küche, wo mich
vielleicht der Vater erwischt hätte, der bei solchen
Gelegenheiten gern seinen sturen (sonst aber eher gelassenen) Pommernschädel
herauskehrte.
Tja, die Erinnerungen. Mein Lieblingsdichter Erich Kästner sagt dazu: Wer das,
was schön war, vergisst, wird böse./ Wer das, was schlimm war, vergisst, wird
dumm.
Barbara
Simon, geb. Steinert Februar
2011