Gastwirtin mit Tradition und Herz
„ Es war im Jahr 1950. Wir waren am 19. August in die
Gaststätte reingekommen, und am 7. Oktober wurde der erste Jahrestag der
Gründung der DDR gefeiert, und im Oktober waren auch die ersten Wahlen. Da
hatten wir das größte Geschäft innerhalb der acht Wochen, die wir schon dort
waren. Das andere Lokal, was 120 Meter weiter weg war, war das Wahllokal, da
durften nur Wähler rein, und da kamen sie eben danach zu uns…
Als wir die Gaststätte gerade übernommen hatten, guckte ich mal aus dem Fenster,
da gingen unten zwei Bauern vorbei, die sagten: Na, was müssen denn hier für
welche drin sein? Meinte der eine: Das sind doch Umsiedler, die einen Haufen
Schulden machen und dann nach’m Westen abhauen. Da habe ich runtergerufen:
Vielleicht auch nicht! Und die bekamen einen schönen Schreck. Die beiden waren
nachher unsere besten Gäste…
Als dann die Gründungszeit der LPG kam, fanden die Versammlungen bei uns statt.
Da saß ein Bauer bei mir in der Küche und heulte wie ein Schlosshund. Ich sagte:
Kurt, du brauchst doch nicht zu heulen. Wir haben auch Probleme… Wir bekamen zum
Beispiel ’53 im Mai keine Lebensmittelkarten mehr, weil wir selbständige
Gewerbetreibende waren. Das wurde uns schriftlich mitgeteilt. Bei uns verkehrten
viele Offiziere aus der ehemaligen Kadettenanstalt. Die waren sehr nett, wir
waren auch nett zu ihnen. Da habe ich mal zu einer Tischrunde gesagt: Eigentlich
dürfte man Ihnen gar nichts mehr hinstellen. Wieso, was haben wir verbrochen?
Nee, Sie nicht, aber lesen Sie mal die Karte hier. Da waren die ganz aus dem
Häuschen und sagten: Was, das ist eine neue Verordnung? Da stimmt doch was
nicht. Und dann haben sie aus ihrem Laden, der innerhalb des Objekts war,
Fleisch mitgebracht und Butter. Und auch die Leuna-Arbeiter haben uns mit
versorgt. Im Juni wurde die Verordnung aber schon wieder aufgehoben…
Eigentlich haben wir uns selbst ausgebeutet. Wir haben beide gearbeitet, ohne
Angestellte bis nachts um eins, zwei. Wenn die Letzten raus waren, hat mein Mann
die Gaststube sauber gemacht, jedes Glas, jeden Aschenbecher, alles. Ich habe in
der Küche aufgeräumt, im Flur gewischt und noch die Toiletten gereinigt… Zur
Küche musste man erst durch den Flur. Weil das so windig war, hat mein Mann eine
Wand eingezogen und eine schöne gemütliche Ecke vorn gemacht. Dort saßen die
Leute, die direkt vom Acker kamen. Die wollten nicht in die Stube reingehen,
damit der Fußboden nicht schmutzig wird. Oder abends die Sportler, die haben da
vorn ihre Brause getrunken…
Ich war nicht in der SED, auch mein Mann nicht… Wir sind aber mit allen Leuten
klar gekommen. Ich hatte immer ein Herz für meine Gäste, und auch im Umgang mit
Betrunkenen war ich geschickt und bestimmt…
Durch die Gastwirtschaft habe ich ja die Probleme des Dorflebens aus erster Hand
mitbekommen. Die Leute sind gut weggekommen mit der LPG. Sie konnten es sich
leisten, auch in der Ernte mal zu verreisen, im Sommer. Oder sie konnten
sonntags wegfahren. Wer seinen Hof hatte, musste ja immer da sein, das Viehzeug
füttern. Bei der LPG war das nun anders. Da war einer für Schweine, einer für
Kühe verantwortlich, jeder für was Anderes. Jeder hatte aber auch noch ein
bisschen Land, ein paar Hühner oder auch Schweine. Die haben nicht schlecht
gelebt. Erst sahen sie alle sehr schwarz. Und nachher waren sie ganz zufrieden.
1959 sind wir Konsumangestellte geworden. Wir haben praktisch die gleiche Arbeit
gemacht und bekamen nun ein Gehalt. Da wusste ich zum ersten Mal, was von dem
Verdienst für mich übrigblieb. Wir kriegten nun auch zwei große
Elektrokühlschränke. Vorher hatten wir nur Kühlschränke
mit Eis…
1965 rief dann plötzlich der Kaderleiter vom Konsum an: Erich wir brauchen dich.
Er sollte
eine Großgaststätte übernehmen. Da war ein Speiseraum
für 70 Personen und ein kleiner Saal für 150 und einer für 300. Was wird denn
aus meiner Frau, hat Erich noch gefragt. Na, die kann das doch allein machen da
draußen. Das habe ich auch getan, Manchmal habe ich Blut und Wasser geschwitzt,
soviel Gäste hatte ich. Von Zeit zu Zeit kam meine Freundin, die bei der Post
arbeitete, und hat mir ein bisschen geholfen in der Küche, die Würstchen warm
machen und auf den Kaffee aufpassen und so…
Im August 1965 haben wir dann in Naumburg eine Zweieinhalbzimmerwohnung mit Bad
und Balkon im Haus der Gaststätte bekommen. Mein Mann war nun der
Geschäftsführer und ich seine Stellvertreterin...“
Die Gaststätte war „Die Post“ am Lindenring (wo heute das Naumburg-Haus drin
ist). Aber meine Mutter hat komischerweise den Namen der Gaststätte im Interview
an keiner Stelle erwähnt.
Jahre später sagte mir meine Mutter, dass sie noch oft vom „Bär“ geträumt hätte
und dass die Zeit in Almrich trotz der vielen Arbeit etwas Besonderes war.
Barbara Simon, Berlin Oktober 2011