Gastwirtin mit Tradition und Herz


So lautet die Kapitelüberschrift in einem 1995 erschienen Buch mit dem Titel „Die stille Emanzipation – Frauen in der DDR. Die Westberliner Autorin Gerda Szepansky stellt darin 18 Frauen vor, bekannte Frauen wie die Leistungsschwimmerin Dagmar Hase oder die Politikerin Regine Hildebrandt, aber auch ganz „normale“ wie meine Mutter, die damals die Älteste (79) der Interviewten war. Jetzt, da meine Mutter mit 97 Jahren gestorben ist, dachte ich mir, einen kleinen Teil aus dem Buch zu zitieren, der sich insbesondere mit dem „Bär befasst. Außerdem würde es meiner Mutter bestimmt gefallen, noch einmal das letzte Wort zu haben!

„ Es war im Jahr 1950. Wir waren am 19. August in die Gaststätte reingekommen, und am 7. Oktober wurde der erste Jahrestag der Gründung der DDR gefeiert, und im Oktober waren auch die ersten Wahlen. Da hatten wir das größte Geschäft innerhalb der acht Wochen, die wir schon dort waren. Das andere Lokal, was 120 Meter weiter weg war, war das Wahllokal, da durften nur Wähler rein, und da kamen sie eben danach zu uns…
Als wir die Gaststätte gerade übernommen hatten, guckte ich mal aus dem Fenster, da gingen unten zwei Bauern vorbei, die sagten: Na, was müssen denn hier für welche drin sein? Meinte der eine: Das sind doch Umsiedler, die einen Haufen Schulden machen und dann nach’m Westen abhauen. Da habe ich runtergerufen: Vielleicht auch nicht! Und die bekamen einen schönen Schreck. Die beiden waren nachher unsere besten Gäste…
Als dann die Gründungszeit der LPG kam, fanden die Versammlungen bei uns statt. Da saß ein Bauer bei mir in der Küche und heulte wie ein Schlosshund. Ich sagte: Kurt, du brauchst doch nicht zu heulen. Wir haben auch Probleme… Wir bekamen zum Beispiel ’53 im Mai keine Lebensmittelkarten mehr, weil wir selbständige Gewerbetreibende waren. Das wurde uns schriftlich mitgeteilt. Bei uns verkehrten viele Offiziere aus der ehemaligen Kadettenanstalt. Die waren sehr nett, wir waren auch nett zu ihnen. Da habe ich mal zu einer Tischrunde gesagt: Eigentlich dürfte man Ihnen gar nichts mehr hinstellen. Wieso, was haben wir verbrochen? Nee, Sie nicht, aber lesen Sie mal die Karte hier. Da waren die ganz aus dem Häuschen und sagten: Was, das ist eine neue Verordnung? Da stimmt doch was nicht. Und dann haben sie aus ihrem Laden, der innerhalb des Objekts war, Fleisch mitgebracht und Butter. Und auch die Leuna-Arbeiter haben uns mit versorgt. Im Juni wurde die Verordnung aber schon wieder aufgehoben…
Eigentlich haben wir uns selbst ausgebeutet. Wir haben beide gearbeitet, ohne Angestellte bis nachts um eins, zwei. Wenn die Letzten raus waren, hat mein Mann die Gaststube sauber gemacht, jedes Glas, jeden Aschenbecher, alles. Ich habe in der Küche aufgeräumt, im Flur gewischt und noch die Toiletten gereinigt… Zur Küche musste man erst durch den Flur. Weil das so windig war, hat mein Mann eine Wand eingezogen und eine schöne gemütliche Ecke vorn gemacht. Dort saßen die Leute, die direkt vom Acker kamen. Die wollten nicht in die Stube reingehen, damit der Fußboden nicht schmutzig wird. Oder abends die Sportler, die haben da vorn ihre Brause getrunken…
Ich war nicht in der SED, auch mein Mann nicht… Wir sind aber mit allen Leuten klar gekommen. Ich hatte immer ein Herz für meine Gäste, und auch im Umgang mit Betrunkenen war ich geschickt und bestimmt…
Durch die Gastwirtschaft habe ich ja die Probleme des Dorflebens aus erster Hand mitbekommen. Die Leute sind gut weggekommen mit der LPG. Sie konnten es sich leisten, auch in der Ernte mal zu verreisen, im Sommer. Oder sie konnten sonntags wegfahren. Wer seinen Hof hatte, musste ja immer da sein, das Viehzeug füttern. Bei der LPG war das nun anders. Da war einer für Schweine, einer für Kühe verantwortlich, jeder für was Anderes. Jeder hatte aber auch noch ein bisschen Land, ein paar Hühner oder auch Schweine. Die haben nicht schlecht gelebt. Erst sahen sie alle sehr schwarz. Und nachher waren sie ganz zufrieden.
1959 sind wir Konsumangestellte geworden. Wir haben praktisch die gleiche Arbeit gemacht und bekamen nun ein Gehalt. Da wusste ich zum ersten Mal, was von dem Verdienst für mich übrigblieb. Wir kriegten nun auch zwei große
  Elektrokühlschränke. Vorher hatten wir nur Kühlschränke mit Eis…
1965 rief dann plötzlich der Kaderleiter vom Konsum an: Erich wir brauchen dich. Er sollte
                  eine Großgaststätte übernehmen. Da war ein Speiseraum für 70 Personen und ein kleiner Saal für 150 und einer für 300. Was wird denn aus meiner Frau, hat Erich noch gefragt. Na, die kann das doch allein machen da draußen. Das habe ich auch getan, Manchmal habe ich Blut und Wasser geschwitzt, soviel Gäste hatte ich. Von Zeit zu Zeit kam meine Freundin, die bei der Post arbeitete, und hat mir ein bisschen geholfen in der Küche, die Würstchen warm machen und auf den Kaffee aufpassen und so…
Im August 1965 haben wir dann in Naumburg eine Zweieinhalbzimmerwohnung mit Bad und Balkon im Haus der Gaststätte bekommen. Mein Mann war nun der Geschäftsführer und ich seine Stellvertreterin...“
 
Die Gaststätte war „Die Post“ am Lindenring (wo heute das Naumburg-Haus drin ist). Aber meine Mutter hat komischerweise den Namen der Gaststätte im Interview an keiner Stelle erwähnt.

Jahre später sagte mir meine Mutter, dass sie noch oft vom „Bär“ geträumt hätte und dass die Zeit in Almrich trotz der vielen Arbeit etwas Besonderes war.


                                                                                                                                        Barbara Simon, Berlin  Oktober 2011